Reformation und katholische Reform

Reformation und katholische Reform
Reformation und katholische Reform
 
In seiner Bannbulle schrieb Leo X.1520: »Ein wilder Eber ist in deinen Weinberg eingedrungen.« Längst ist die fromme Schulmeinung, die in katholischen Kreisen bis ins 20. Jahrhundert hinein wirksam bleiben konnte, die verheerende Reformation mit Luther als Dämon an der Spitze sei aus heiterem Himmel in einen wohl geordneten Garten Eden eingedrungen, als katholische Propaganda entlarvt. Aus heutiger Perspektive werden viele Probleme theologischer Natur, die zum Auslöser für die Reformation wurden, kaum noch verstanden oder für periphere theologische Spitzfindigkeiten gehalten. Doch damals brachen die Reformatoren mit allem, was inhaltlich das Wesentliche im Glaubensleben der meisten Christen ausgemacht hatte: Mit ihrer Kritik an Heiligenverehrung, Wallfahrtswesen, Reliquien, Messe und Sakramenten stellten sie den Kernbestand der alltäglichen religiösen Praxis im Spätmittelalter und in der beginnenden Neuzeit in Frage. Und dies geschah in einer gesellschaftlichen Umwelt, in der diese Kritik auf fruchtbaren Boden fiel und die die publizistischen Mittel bereitstellte, um sie auch zu verbreiten
 
Dennoch lässt sich die stürmische Rezeption der reformatorischen Ideen aus den theologisch strittigen Sachverhalten heraus nicht ausreichend erklären. In erster Linie war es wohl die Freiheit in Gestalt der Gewissensfreiheit des gläubigen Individuums, die Luther seine Popularität sicherte und seiner Bewegung einen derartigen Erfolg garantierte. Und dass sich der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung im Bewusstsein der Machtlosen auch auf politische Freiheiten und Teilhaberechte erstreckte - auch wenn das den Absichten der Reformatoren nicht immer entsprach -, zeigte sich daran, wie schnell die Bewegung ihren Anführern beispielsweise in den Bauernkriegen entglitt.
 
Die katholische Reaktion auf diese massive Kritik wurde im klassischen Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts, dem wir übrigens auch die Begriffe Renaissance und Aufklärung verdanken, als »Gegenreformation« bezeichnet. Heute zieht man es vor, von »katholischer Reform« zu sprechen. Sie stellte eine Epoche dar, die gleichermaßen von Abgrenzung nach außen und Konsolidierung nach innen gekennzeichnet war. Im katholischen und protestantischen Umfeld wurden bisher nicht hinterfragte Glaubensvorstellungen, religiöse Institutionen und Praktiken radikal verändert oder doch auf eine andere, weil intellektuell bewusstere Basis gestellt.
 
Das Konzil, das schon seit Jahrzehnten dringend gefordert worden war, kam wegen der Angst des Papsttums vor antirömischen Interessen erst 1545 und ohne Mitwirkung der Protestanten in Trient zustande und damit zu spät, um die Kirchenspaltung noch aufhalten zu können. Gegen das lutherische Schriftprinzip formulierte es die Lehre, die kirchliche Tradition sei mit der gleichen Ehrfurcht anzunehmen wie die Heilige Schrift. Es schrieb die katholische Praxis der Sakramentenspendung, der Heiligen-, Reliquien- und Bilderverehrung sowie die Lehre von Rechtfertigung, Ablass und Fegefeuer fest. Es versuchte der drohenden Regionalisierung entgegenzuarbeiten und den Zentralismus wiederherzustellen, indem es eine gemeinsame Bibelausgabe, eine einheitliche Liturgie und ein einziges Gesetzbuch einführte. Daneben widmete es sich einer Reihe von Reformanliegen, die teilweise schon Gegenstand früherer Reformkonzilien gewesen waren, wie der Residenzpflicht der Bischöfe, der Überprüfung der Diözesen durch bischöfliche Visitationen, mühte sich aber auch um die Priesterausbildung, die Besetzung der Pfarreien, das Predigtwesen und die Reform der Orden. Als das Konzil nach drei Tagungsperioden unter ebenso vielen Päpsten 1563 geschlossen wurde, war ihm - anstatt die Kirchenspaltung zu überwinden - nur noch die Feststellung des Status quo geblieben. Immerhin bildete es die katholische Antwort auf die Herausforderungen der Reformation und wollte Impulse für eine grundlegende Erneuerung der Kirche geben.
 
Die Gegenreformation im Sinne einer negativen Abgrenzung von den Anliegen der Reformatoren erreichte ihren Höhepunkt in den Zwangsmaßnahmen, für die der Index der verbotenen Bücher und die Inquisition stehen. Bei genauerer Betrachtung zerfällt aber die katholische Reform in ein ganzes Bündel von relativ separaten Entwicklungen und Ereignissen. Hierzu zählt man neben dem Konzil von Trient so heterogene Faktoren wie die neuen Orden, insbesondere die Jesuiten, das Reformpapsttum, Reformen in Spanien und Italien, die Kolonisierung und Evangelisierung der Neuen Welt, die politische Rekatholisierung durch eine neue Generation katholischer Machthaber sowie die verinnerlichte Mystik einer Theresia von Ávila und eines Johannes vom Kreuz
 
Faktisch verhalf das Zusammenspiel von Reformation und katholischer Reform endlich den Reformanliegen zum Durchbruch, die jahrhundertelang nur verbal gefordert worden waren. Allerdings erfolgte dies erst zu einem Zeitpunkt, als die Trennung der Konfessionen bereits vollzogen war.
 
Die Reformation beseitigte die jahrhundertealte Einheit der lateinischen Christenheit. Nur für kurze Zeit löste sie die Bindung des Individuums an die kirchliche Autorität, die erhoffte politische Freiheit brachte erst die Französische Revolution. Die Reformatoren setzten aber eine gesellschaftspolitische Entwicklung in Gang, in der sich der Staat von der Bevormundung durch die Kirche emanzipierte, um nun seinerseits im Landesherrentum und Absolutismus die Kirche von sich abhängig zu machen. Doch im Grunde stellte auch diese Phase nur ein Übergangsstadium in einer Bewegung dar, die erst mit der vollständigen Trennung von Kirche und Staat zur Ruhe kommen sollte. Damit erweist sich die Reformation als ein weit über die eigentliche Reformationszeit und das konfessionelle Zeitalter hinausreichender Prozess, der die Basis bildete für die Entwicklung der Gesellschaft der Neuzeit in das 20. Jahrhundert hinein.
 
Dr. Ulrich Rudnick

Universal-Lexikon. 2012.

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